Stell Dir vor es ist Samstag Abend und Du bekommst von einem Freund eine Whatsapp, in der er Dir einen Screenshot von einem gemeinsamen (Facebook-)Freund schickt – in dieser kündigt der Freund offensichtlich seinen Selbstmord an. Wie würdet ihr reagieren? Nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit oder doch echte Suizid-Gedanken? Was tun in dieser Situation?
Genau diese Entscheidung „durfte“ ich am Samstag Abend treffen. Aber der Reihe nach:
Samstag war eh schon ein mittelprächtiger Tag: Über das Spiel bzw. das drumherum bei 1860 – Halle habe ich mich ja hier schon ausführlich ausgelassen.Eigentlich wollte ich danach nach Allershausen zu einer Party von einem großen Motorrad-Club, doch informierte mich kurz vor der Autobahnausfahrt Allershausen ein Freund, dass die Polizei alle Partybesucher zum Teile eine Stunde ausführlich kontrollieren würde.
Da hatte ich überhaupt keine Lust drauf und in noch einer Kartei wollte ich auch nicht zwingend landen, also ging es gleich weiter in Richtung Tschechien – ist ja von dort nicht mehr weit (also „nur“ noch knapp zwei Stunden Fahrt) und es stand ein lukratives Pokerturnier auf dem Programm. Ist zwar wenn man mit ein paar Level Verspätung einsteigt nicht optimal, aber im Regelfalle gut zu handhaben.
Kaum hatte ich am Tisch Platz genommen, fand ich die folgende Whatsapp in meinem Posteingang.
Es war der angehängte Screenshot, daraufhin schaute ich direkt auf sein Facebook-Profil. Das ganze war eine Stunde alt und war – das hat mich besonders fassungslos gemacht – kommentiert mit traurigen Smileys und „was los?“ Kommentaren. Ich weiß zwar nicht 100% was die richtige Reaktion ist, aber diese ist es auf jeden Fall nicht.
Ich habe auf jeden Fall erst einmal versucht, den Verfasser zu erreichen: Whatsapp ging nicht durch und das Handy war ausgeschaltet – und bei Whatsapp hab ich dann folgenden Status entdeckt:
Wäre ich in München gewesen, wäre ich umgehend bei ihm vorbeigefahren um nach dem rechten zu schauen, aber so? Da ich in einer Whatsapp-Gruppe mit vielen gemeinsamen Freunden bin, habe ich dann dorthin schnell die beiden Screenshots eingestellt mit der Bitte um Rückmeldung. Diese kam umgehend: jeder war der Meinung dass die Polizei benachrichtigt gehört, aber zugleich hatte jeder einen – wirklich guten – Grund, warum er das jetzt gerade nicht machen könnte. Freunde die in der Nähe wohnen oder die insgesamt etwas näher an ihm dran sind waren und sind mir nicht bekannt – und wozu Zeit verschwenden?
Ein kurzer Blick auf die Uhr: Seit dem Posting war eine Stunde vergangen, Turnierpause wäre aber erst in 30 Minuten. Würde ich mir selber jemals verzeihen, wenn es genau an diesen 30 Minuten gescheitert wäre und ich die Pause abgewartet hätte?
Ich suchte mir also die meines Wissens nächstgelegene Polizeistation via Google, rief dort an und schilderte die ganze Situation… inkl. Übermittlung der Screenshots via Mail, Rückruf etc… das ganze zog sich ziemlich passend bis zur Turnierpause hin. Dass eine Freundin aus der gleichen Whatsapp-Gruppe parallel das gleiche auf der 110 erlebte – geschenkt. Doppelt hält im Zweifelsfalle besser, bin stolz auf Dich. Man hat ja auch nichts anderes zu tun, wenige Tage vor einer Entbindung…
Da unter das Facebook-Profil noch ein paar Leute ihre Sorgen kommentiert haben, kommentierte ich das ganze mit den Worten „Ich hoffe das war nur ein dummer Scherz – ich habe jetzt trotzdem die Polizei gerufen weil ich Dich nicht erreichen konnte, nicht böse sein“.
Daraufhin schossen bei mir nur so die Nachrichten rein von Freunden und Freundinnen von ihm, die mehr Infos hatten (wie den Whatsapp-Status) oder wollten bzw. sich einfach Sorgen gemacht haben.
Das Pokerturnier war zu diesem Zeitpunkt quasi erledigt: 1/3 des Stacks beim telefonieren verloren, unmöglich sich zu konzentrieren… aber Scheiß drauf: für seine Freunde macht man alles – ein Konzert meiner Lieblingsband, ein romantisches Date, ein Pokalfinale… egal was, ich würde mich im Zweifelsfall immer für meinen Freund entscheiden, weil es einfach nichts gibt was wichtiger ist als ein Menschenleben.
Noch einmal eine Stunde später die vorsichtige Entwarnung: Freunde von ihm hatten auf Facebook kommentiert, dass sie bei ihm in der Wohnung wären und es ihm gut gehen würde.
Am nächsten Tag verschwand dann irgendwann die Facebook-Nachricht vom oberen Screenshot als ob nichts gewesen wäre und auf Whatsapp stand: „Mir geht´s gut – macht euch keine Sorgen“.
Dementsprechend gehe ich jetzt einfach mal davon aus, dass es ihm gut geht. Ganz oben hatte ich ja (Facebook-)Freund geschrieben: Es geht um einen Menschen, mit dem man früher dicke war und Jahre später eigentlich nur noch über Facebook befreundet ist.
Ich glaube trotzdem, dass meine Entscheidung richtig war: Ein Mensch der einem mal nahe stand, benötigte Hilfe. Lieber einmal zuviel die Polizei verständigt, als sich ein ganzes Leben lang Vorwürfe zu machen.
Stephan Tempel